Meine Damen und Herren,
liebe Genossinen und Genossen,
dieser Tage erscheint ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „Gewalt. Eine neue Menschheitsgeschichte“. Sein Autor Steven Pinker vertritt darin auf über 1.200 Seiten die These, dass die Geschichte der Menschheit zwar eine der Gewalt sei, diese Gewalt gegenüber Personen jedoch im Verlauf der Jahrhunderte abgenommen hätte und immer seltener zur Handlungsoption würde.
Man mag zu Pinkers Thesen stehen, wie man möchte. Er hat jedenfalls eines vergessen darzustellen, was unmittelbar mit dem heutigen Tag, an dem vor 73 Jahren in ganz Deutschland – so auch hier in Dresden – die Synagogen brannten. Er vergaß die Gewalt gegenüber Symbolen.
Symbole müssen seit Jahrhunderten herhalten, wenn Ideen, Glaubensgrundsätze oder Menschen indirekt angegriffen werden sollen. Denken wir an die Bastille, deren Stürmung man in Frankreich als symbolischen Beginn der Französischen Revolution heute als Nationalfeiertag begeht. Oder wenn in Syrien dänische Flaggen brannten, weil ein Karikaturist in Kopenhagen den Propheten Mohammed abgebildet hat, dann war auch das ein Akt der Gewalt gegenüber Symbolen. Es gibt symbolische Zerstörungen, die wir feiern und andere, die wir ablehnen. […]
Die Nationalsozialisten waren Meister darin, ihre Feinde symbolisch abzuwerten und Symbole zu zerstören. Sie wollten damit zeigen: „Erst zerstöre ich das, was du bist, und dann zerstöre ich dich!“ Die so genannte „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 war ein solches symbolisches Zerstören.
Bevor mit dem Holocaust die Juden aus Deutschland und Europa in den Tod geschickt wurden, sollten am 9. November 1938 alle Zeichen der jahrhundertealten jüdischen Kulturgeschichte Deutschlands dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Ermordung des deutschen Botschafters in Paris, dem NSDAP- Mitglied Ernst Eduart von Rath, durch Herschel Grynszpan diente den Nazis als willkommener Anlass, die Vertreibung der deutschen Juden mit Nachdruck voranzubringen. Zufällig jährte sich auch der gescheiterte Hitler- Ludendorff- Putsch an diesem Tag zum 25. Mal. „Wann, wenn nicht heute“, mögen sich Hitler, Goebbels und Konsorten gesagt haben. So brannten von Innsbruck bis Flensburg, und von Königsberg bis Aachen über 1.400 Synagogen. SA und SS zerstörten tausende Betstuben, sie plünderten und verwüsteten Geschäfte und Wohnungen, schändeten jüdische Friedhöfe.
Doch die Gewalt ging auch damals über Symbole hinaus. In den Tagen um den 9. November ermordeten die Nazis hunderte Menschen oder trieben sie in Selbstmord. Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt. An diesem Tag war der letzte Funken Bürgerlichkeit, der letzte Rest Anstand verflogen, den die deutschen Juden bis dahin im Lande Goethes und Schillers, Kants und Herders vermutet hatten. Die blinde Zerstörungswut der Nazis ließ Wenigen eine Alternative zur Auswanderung.
Auch unsere angeblich so unschuldige Kunst- und Kulturstadt Dresden verlor in jenen Tagen einen unermesslichen Schatz. Die – aus heutiger Sicht – alte Synagoge zu Dresden war nicht nur ein großartiger von Gottfried Semper gestalteter neo- romanischer und neo- orientalischer Bau, sondern bis zu jenen Tagen im November das Zentrum des jüdischen Lebens in Dresden.
Zerstört wurde die Synagoge durch Feuer – der wohl gründlichsten Kulturtechnik, der wir Menschen uns bedienen, um Dinge oder Menschen gänzlich zu vernichten; sie – als Asche und Staub – buchstäblich dem Erdboden gleich zu machen. Zerstört wurde die Synagoge aber vor allem von Menschen. Menschen, die nicht eingriffen, als es galt, Courage zu zeigen. Menschen, die nicht eingriffen, als im März 1933 schon einmal symbolhaft Bücher brannten.
Diese Menschen griffen auch nicht ein, als mit dem Judenstern – dem Pour le Sémite, wie der Dresdner Victor Klemperer ihn nannte – ein neues Symbol anzeigte, wer lebenswert war und wer nicht. Sie wussten nicht, oder verleugneten später, dass dies alles nur ein Vorspiel war – die Prälüde zur Menschenverbrennung im Holocaust.
Der Vernichtung von Menschen – wie grausam treffend ist dieser Begriff für die massenhafte Ermordung von Menschen im industriellen Zeitalter – geht oft die Zerstörung ihrer Symbole voraus. Viel zu oft fällt auch beides zusammen. Ich möchte hier an Jugoslawien in den 1990er Jahren erinnern, als dort erst Moscheen brannten, dann Menschen.
An die Zerstörung eines Symbols können wir alle uns noch gut erinnern. Es ist gerade einmal 10 Jahre her, dass die Twin Towers – das Symbol amerikanischer Weltmacht – durch Terroristenhand zum Einsturz gebracht wurden. Dabei starben Tausende.
Seit diesem Tag gibt es eine neue Angst in dieser, unserer westlichen Welt: Es ist die Angst vor Moscheen oder „dem Islam“, der so vielfältig ist wie jede andere Religion, und der friedfertiger ist als es das Christentum in seiner Geschichte je war.
Die Angst vor Moscheen und den darin Betenden offenbart sich im Schweizer Minarettverbot, in der Hetze eines Geert Wilders oder eines Jimmie Åkesson in Schweden. Islamfeindlichkeit und Antiziganismus, volgo „Zigeunerfeindlichkeit“, sind heute das, was der Antisemitismus bis zum Holocaust war. Aber auch die Feindlichkeit gegenüber Juden ist längst nicht überwunden. Wir müssen nur nach Ungarn schauen, ein Land der Europäischen Union.
Selbstverständlich meine ich hier auch die gedanklichen Kinder der Novemberpogrome 1938, deren Gedankengut wir hofften, nach 1945 überwunden zu haben. Dem ist nicht so. Noch immer hetzen so genannte „wirkliche Deutsche“ gegen Juden, Sinti und Roma, Vietnamesen, Türken, Russen und all die anderen Menschen, die nicht so aussehen wie sie, nicht so sprechen wie sie, nicht so ignorant sind wie sie und nicht so armselig sind in ihrer Erklärung für die Probleme dieser Welt.
Es ist unsere Pflicht als Nachgeborene, das Feuer in den Krematorien Auschwitz- Birkenaus, Sobibórs und Treblinkas nicht zu vergessen. Es ist unsere Pflicht als Menschen, die wir nun mit dieser Geschichte in Freiheit leben dürfen, jeden Menschen, egal welcher Hautfarbe, Religion, Herkunft oder Ansicht, gleich zu behandeln, für die Würde eines jeden Menschen einzutreten und mit denen, die nicht so frei sind wie wir, Solidarität zu üben. Aber unsere Toleranz – um mit Helmut Schmidt zu sprechen – stößt dort an Grenzen, wo die Intoleranz Anderer beginnt.
Deswegen müssen wir Zeichen setzen, laut und mutig sein gegenüber denjenigen, die diese Werte mit Stiefeln treten. Manchmal müssen wir auch Platz nehmen, neue Symbole schaffen, um Demokratie und Menschenwürde gegen ihre Feinde zu verteidigen. Nur so können wir irgendwann ein neues Buch schreiben, das den Titel tragen soll: „Gewalt. Eine überwundene Geschichte der Menschheit.“
Vielen Dank